Zahnbehandlung um 1900: Als in Boffzen noch auf der Hobelbank Zähne gezogen wurden

Zahnbehandlung um 1900: rohe Werkzeuge, schmerzvolle Eingriffe – und eine Zange, die bis heute überlebt hat
Von Manfred Bues
Boffzen. Wer heute mit leichtem Unbehagen im Zahnarztstuhl sitzt, sollte sich vergegenwärtigen, wie eine Zahnbehandlung vor gut 120 Jahren in Boffzen ablief – nämlich ohne Betäubung, ohne medizinische Ausbildung und ohne Rücksicht auf Schmerz und Hygiene. Es war die Zeit, als Zähne noch auf der Hobelbank gezogen wurden.
Im Zentrum dieser Geschichte steht Friedrich Korte, von Beruf Stellmacher und im Dorf bekannt für seine kräftigen Hände. Doch Korte war mehr als ein Handwerker: Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 diente er im Rang eines Unteroffiziers – und übernahm dort die Aufgaben eines sogenannten Feldschers, einer Art militärischer Wundhelfer, der Verletzte versorgte, Amputationen begleitete und nicht selten auch Zähne zog. Feldscher waren Vorläufer des heutigen Sanitätspersonals, verfügten über rudimentäre medizinische Kenntnisse und viel Improvisationstalent.
Nach dem Krieg brachte Friedrich Korte zwei Werkzeuge mit nach Hause, die bald gefürchtet wurden: eine schwere Zahnzange und einen Zahnbrecher – beides grobschlächtige Instrumente, mit denen er in seiner Werkstatt in Boffzen zur letzten Hoffnung für Zahnschmerzgeplagte wurde.
Die „Behandlung“ fand in der Stellmacherwerkstatt statt, die heute noch existiert – wenn auch ohne Patienten. Wer unter Zahnschmerzen litt, setzte sich auf die Hobelbank. Der Stellmacher tastete mit geübten Händen nach dem schadhaften Zahn, setzte die Zange an und mit einem kräftigen Ruck – begleitet von einem gellenden Schrei – war der Zahn draußen. Ob es der richtige war, wusste man oft erst danach. Kamillentee diente als Spülung. Schmerzmittel? Fehlanzeige.
Der Eingriff kostete 20 Pfennig – ein sogenannter „Ort Sluck“ – und war damit für viele erschwinglich, wenn auch schmerzvoll.
Die Behandlungen wurden noch bis ins Jahr 1910 fortgeführt, ehe mit Dr. Leusmann der erste ausgebildete Arzt nach Boffzen kam. Damit endete ein blutiges Kapitel der Dorfgeschichte – zumindest medizinisch.
Ein Zeugnis jener Zeit ist bis heute erhalten: Die originale Zahnzange befindet sich im Besitz von Manfred Bues, dem Urenkel des einstigen Stellmachermeisters. Das schwergewichtige Werkzeug aus dunklem Metall liegt heute nicht mehr in einer Werkbank, sondern in einer Kiste – als stumme Erinnerung an eine Zeit, in der Mut und Schmerz fester Bestandteil der Heilkunst waren.
Und auch der Name Friedrich Korte ist im Ort nicht vergessen. Am Kriegerdenkmal in der Oberen Dorfstraße, das an die Teilnehmer des Kriegs gegen Frankreich erinnert, ist sein Name bis heute eingraviert – als Zeugnis einer rühmlichen, aber auch harten Epoche.

