Die Kugel meines Großvaters

Ein Bürger blickt zurück – ganz persönlich, ganz nah.
Ich sitze auf einer Bank am westlichen Hang des Kathagenbergs. Die Luft ist kühl, aber klar. Vor mir breitet sich das Wesertal aus – ein weiter Blick auf eine Landschaft, die heute Frieden atmet. Doch in meinen Gedanken ziehen dunkle Schatten auf. Ich schaue hinunter ins Unterdorf von Boffzen. Dort, keine 300 Meter entfernt, liegt der Friedhof. Und auf diesem Friedhof ein stiller Ort, an dem sich Geschichte verdichtet: der Ehrenfriedhof für die gefallenen Soldaten beider Weltkriege.
Ein großes Kreuz aus Bundsandstein ragt am Rand dieses Feldes auf. Es steht da wie ein stummer Zeuge, ein mahnendes Symbol. Fast 200 Männer aus Boffzen verloren in den Weltkriegen ihr Leben. Ihre Namen sind in Stein gemeißelt, doch in den Herzen vieler Familien tragen sie noch heute ein Echo – so auch in meiner.
Ich greife in meine Jackentasche. Dort liegt eine Kugel. Kein Erinnerungsstück im herkömmlichen Sinne, sondern eine stumme, kalte Mahnung. 1944 wurde sie von einem russischen Partisanen abgefeuert – irgendwo in Weißrussland – und traf meinen Großvater in den Rücken. Die Kugel blieb kurz vor seiner Lunge stecken. Er überlebte – schwer verletzt. Jahrgang 1905, ein einfacher Infanterist der Wehrmacht, weit weg von seinem Heimatdorf Boffzen. In seinen Erzählungen nach dem Krieg sprach er selten über den Schmerz, aber oft über die Sinnlosigkeit.
Heute, am Rande dieses Naturschutzgebietes, wirken seine Worte nach. Ich frage mich, was er sagen würde, wenn er hier neben mir säße. Ob er den Frieden sehen würde, den wir so lange für selbstverständlich hielten? Ob er stolz wäre, dass sein Enkel heute auf einer Bank sitzt – ohne Gewehr, ohne Marschbefehl, ohne Angst?
Die letzten Kriegstage in Boffzen – im April 1945 – waren von Unsicherheit und Angst geprägt. Amerikanische Truppen rückten näher. In den Kellern flüsterte man von Evakuierungen, von brennenden Häusern, von Gefangenschaft. Manche versuchten zu fliehen, andere warteten resigniert ab. Und dann, irgendwann, war es vorbei. Die Waffen schwiegen – nicht nur in Europa, sondern auch hier im kleinen Boffzen.
Doch der Friede begann nicht sofort. Er musste wachsen. Und in jedem Haus, in jeder Familie gab es Wunden, die nicht auf den ersten Blick zu sehen waren. Auch bei uns.
Wenn ich heute auf das Kreuz am Ehrenfriedhof blicke, sehe ich nicht nur Namen – ich sehe Leben, Träume, Hoffnungen, die jäh endeten. Und ich sehe meinen Großvater, der heimkehrte – verwundet, still und nachdenklich. Seine Kugel trage ich als Erinnerung. Nicht an den Krieg. Sondern daran, wie kostbar der Frieden ist.





