Die Explosion, die Höxter erschütterte – Wilfried Henze erinnert sich an den 19. September 2005
Höxter. Es war kurz nach neun Uhr am Morgen des 19. September 2005, als die Innenstadt von Höxter durch eine gewaltige Detonation erschüttert wurde. Was an diesem Montag geschah, gilt bis heute als die schwerste Explosionskatastrophe der Nachkriegszeit in der Region. Drei Menschen verloren ihr Leben, mehr als 60 wurden verletzt. Historische Gebäude wie das Rathaus und die Kilianikirche erlitten massive Schäden. Eine Baulücke in der Altstadt erinnert noch heute an jenen Morgen, der sich tief ins Gedächtnis vieler Bürger eingebrannt hat.
Einer, der die Katastrophe hautnah miterlebte, ist Wilfried Henze. Der heute über 79-Jährige empfängt mich in seinem Haus, nur wenige Schritte vom damaligen Unglücksort entfernt. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stapeln sich alte Zeitungsartikel, Chroniken und Fotos. „Eigentlich möchte ich darüber nicht mehr reden“, sagt er leise. „Aber dann sprudelt es doch wieder aus mir heraus.“ Er und seine Frau Christine überlebten – doch die Erinnerung an Zerstörung und Panik ist bis heute präsent.
„Raus, raus!“ – Die Flucht ins Freie
Henze erinnert sich genau: „Es war ein schöner, klarer Morgen. Wir hatten Ruhetag in unserer Kunstgalerie und wollten im Garten arbeiten. Weil es noch feucht war, blieben wir im Haus. Dann – dieser Knall.“
Die Wucht der Explosion ließ die Wohnzimmerlampe zu Boden stürzen, Glasscheiben zerbarsten, Splitter flogen durch die Räume. „Ich schrie nur: ‚Raus, raus!‘ – und rannte mit meiner Frau die Treppe hinunter.“
Vor der Kilianikirche bot sich ihnen ein Bild des Chaos: Menschen in Panik, Patienten der Zahnarztpraxis im Erdgeschoss liefen noch mit Behandlungsumhängen auf die Straße, Schreie hallten durch die Altstadt.
„Dann sahen wir erst, was geschehen war“, erzählt Henze. „Das Haus, in dem unsere Galerie war, existierte nicht mehr – nur noch ein Trümmerhaufen. Auch die Buchhandlung nebenan war schwer getroffen, ebenso das angrenzende Stender-Haus. Überall lagen Steine, Balken, Glasscherben. Die Druckwelle hatte Dächer abgedeckt, Mauern beschädigt, Fenster zerstört.“
Ein schwieriger Nachbar
Besonders bitter für Henze: Er kannte den 64-jährigen Hauseigentümer gut – jenen Mann, der die Explosion vorsätzlich ausgelöst hatte. „Wir hatten lange ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Doch nach dem Tod seiner Mutter zog er sich immer mehr zurück“, erinnert er sich. Die Stimmung habe sich zunehmend verschlechtert. „Eines Tages stellte er uns einfach den Strom für die Galerie ab.“
Wie akribisch der Nachbar die Katastrophe vorbereitete, ist für Henze bis heute kaum fassbar. „Er muss unzählige Male kleine Behältnisse mit Benzin von der nahgelegenen Tankstelle geholt und im Keller gelagert haben. Dass das niemandem aufgefallen ist, ist für mich bis heute unbegreiflich.“
Später stellte sich heraus: Ein geöffnetes Gasventil und rund 900 Liter Brandbeschleuniger machten die Explosion so verheerend. Henze glaubt bis heute nicht an einen Zufall beim Zeitpunkt: „Ich denke, er wollte meine Frau und mich nicht töten. Er wusste, dass wir montags Ruhetag hatten.“
Eine Stadt im Ausnahmezustand
Die Explosion vernichtete das Wohn- und Geschäftshaus „Am Rathaus 11“. Zwei Passanten starben unmittelbar, der Täter selbst kam in den Trümmern ums Leben. Mehr als 75 Gebäude erlitten Schäden, frisch sanierte Häuser mussten teilweise wieder abgerissen werden, weil ihre Standsicherheit nicht mehr gewährleistet war.
Der Kreis Höxter rief noch am selben Tag den Katastrophenfall aus. Fast 300 Helferinnen und Helfer waren im Einsatz, insgesamt 400 Rettungskräfte kämpften gegen Flammen, Schutt und Einsturzgefahr. Rund 400 Tonnen Trümmer wurden abgetragen. Trümmerteile flogen bis auf den Marktplatz.
„Die Zusammenarbeit zwischen Feuerwehr, THW, Bundeswehr und Rettungsdiensten war vorbildlich. Verletzte wurden zunächst in einer nahegelegenen Arztpraxis in der Bachstraße versorgt und von dort ins Krankenhaus gebracht“, erinnert sich Henze.
Die Kirche als stummer Zeuge
Seit fünf Jahren kümmert sich Henze ehrenamtlich um die Kilianikirche. Jeden Tag öffnet und schließt er das Gotteshaus – und hält damit auch die Erinnerung an die Katastrophe wach.
Im Inneren zeigt er auf Fotos an der Wand: zerstörte Bleiglasfenster, Mauerrisse, herabgestürztes Gestühl. „Hier, schauen Sie“, sagt er, und deutet von Bild zu Bild. Zu jedem weiß er eine Geschichte: wie Fenster ins Kircheninnere geschleudert wurden, wie neue Risse die Mauern durchzogen oder wie die erst kurz zuvor restaurierte Orgel wieder ausgebaut werden musste. Die Schäden an der Kirche beliefen sich auf rund 1,3 Millionen Euro.
Das Rathaus schwer getroffen
Direkt gegenüber der Unglücksstelle liegt das historische Rathaus von 1610. Es bekam die volle Wucht der Detonation ab. Das Sandsteindach hob sich in der Druckwelle an und senkte sich wieder – unsichtbare, aber gravierende Schäden waren die Folge. Auch hier zerbarsten Bleiverglasungen, Fachwerk musste gesichert und neu verbunden werden. Der Gesamtschaden wurde auf rund 750.000 Euro geschätzt.
Auch das benachbarte Küsterhaus und das Standesamt wurden in Mitleidenschaft gezogen. Dach, Fenster und Fachwerk mussten aufwendig saniert werden – Kostenpunkt rund 250.000 Euro.
„Man vergisst das nie“
Für Henze und seine Frau Christine bedeutete die Katastrophe beinahe das Ende ihrer Existenz. „Innerhalb von Sekunden war alles zerstört. Nur weil wir an diesem Morgen nicht in den Garten gegangen sind, leben wir noch.“
Zwei Jahre dauerte es, bis ihr Haus, indem sich die Buchhandlung befand, wieder vollständig saniert war. „Abgerissen werden musste es nicht“, sagt Henze erleichtert. „Ich bin heute noch den Handwerksbetrieben dankbar, die sogar samstags am Wiederaufbau gearbeitet haben.“
Dann stockt seine Stimme. „Man verdrängt vieles, aber vergessen kann man es nicht. Jeder Gang durch die Altstadt, jede Erinnerung an den Knall bringt es zurück.“
Wenn ich heute den Fernseher anschalte und Bilder aus der Ukraine sehe – zerstörte Häuser, flüchtende Menschen, Explosionen – sei das Gefühl sofort wieder da: „Es ist, als wäre es gestern gewesen.“
Eine Wunde, die bleibt
Zwanzig Jahre nach der Katastrophe ist die Wunde in der Stadt noch sichtbar. Wo einst das Wohn- und Geschäftshaus stand, klafft bis heute eine Lücke, die als Parkplatz für Anwohner genutzt wird. Für Henze ist sie mehr als ein leerer Platz: „Es ist ein Mahnmal. Für mich persönlich, aber auch für Höxter.“













