Vergangenheit im Blick: Der Holzmindener Getreidespeicher und seine Geschichte

Holzminden.
Am Ufer der Weser erhebt sich ein beeindruckendes Bauwerk, das die Erinnerung an eine vergangene Epoche wachhält: der Holzmindener Getreidespeicher. Zwischen 1939 und 1941 als „Reichstypenspeicher“ errichtet, steht dieses Gebäude nicht nur für architektonische Meisterschaft, sondern auch für die wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen des Dritten Reiches. Die historischen Informationen über diesen Speicher entnehme ich einem wissenschaftlichen Aufsatz der Professoren Birgit Franz und Georg Maybaum von der HAWK Hildesheim, Göttingen und Holzminden. Sie beschreiben das Bauwerk als „dominanten Zeitzeugen“ der Weserlandschaft und analysieren es als Symbol der nationalsozialistischen Vorratspolitik.
Die Baukosten beliefen sich damals auf 1,2 Millionen Reichsmark. Mit Christopher Görz, Prokurist der Rudolph Leopold Rieke GmbH & Co. KG, die den Speicher bis heute betreibt, erkunde ich das Gebäude und erfahre von den erheblichen Veränderungen, die sich in der Logistik seit seiner Bauzeit vollzogen haben. Einst war der Speicher direkt an die Hafenbahn und das nationale Schienennetz angeschlossen, sodass Getreide effizient per Bahn und Binnenschiff transportiert werden konnte. Heute erfolgt der Transport fast ausschließlich per Lastwagen. Die Hafenbahngleise sind nur noch teilweise erhalten – ein stiller Zeuge moderner Verkehrsveränderungen.






Der Speicher bietet eine beachtliche Lagerkapazität von 15.000 Tonnen, eine Erweiterung, die ursprünglich nicht vorgesehen war. Zunächst für 10.000 Tonnen ausgelegt, wurde die Kapazität dank Verhandlungen des Bauherrn und Bemühungen des Ingenieurbüros C. Ricken aufgestockt. Diese Anpassung machte ihn zu einem der größten Speicher seiner Art und verdeutlicht die Bedeutung des Standorts Holzminden in der nationalsozialistischen Vorratswirtschaft.
Als mir Christopher Görz die Schaltzentrale zeigte, sah ich, dass aktuell Mais, Hafer, Weizen, Roggen und Bohnen gelagert werden. Franz und Maybaum betonen in ihrem Aufsatz die immense Bedeutung des Speichers als Teil des „Vierjahresplans“ der Nationalsozialisten, mit dem Deutschland autark und kriegsfähig gemacht werden sollte. Als idealer Standort wurde Holzminden gewählt – direkt an der Weser gelegen und in unmittelbarer Nähe zur Sperrholzfabrik Gebr. Sasse, sodass sowohl die Schiene als auch die Wasserstraße für schnelle Transporte zur Verfügung standen. Heute steht der Speicher als stummer Zeuge dieser Vergangenheit und der rigiden Vorratspolitik, die zur nationalen Kriegsplanung beitrug.
Der steile Treppenaufgang, der die neun Etagen verbindet, lässt die Ausmaße des Bauwerks spürbar werden. Mauern von bis zu 80 Zentimetern Dicke boten strukturellen Schutz und wurden so errichtet, dass sie selbst Angriffen standhalten könnten. Der seit 1939 ununterbrochen betriebene Fahrstuhl zeigt eindrucksvoll die Qualität und Langlebigkeit der damaligen Technik. Dieser ermöglichte den Arbeitern schnellen Zugang zu den Etagen und den Transport von Proben und Material. Seine Funktionalität bis heute, unterstreicht die Robustheit der originalen technischen Ausstattung.




In den 1970er Jahren wurde ein modernes Nebengebäude hinzugefügt, das die Anlieferung des Getreides für Landwirte und Spediteure vereinfachte. Eine Rampe ermöglicht es Fahrzeugen, das Getreide direkt in einen Schacht zu kippen, von wo aus es unterirdisch in den Hauptspeicher befördert wird. Diese Erweiterung verbesserte die Effizienz und zeigt, wie der Speicher an moderne Anforderungen angepasst wurde, ohne seinen historischen Charakter zu verlieren.
Oben angekommen, bietet sich ein weitreichender Ausblick über Holzminden, die Weser und das westfälische Hügelland. Diese Aussicht verdeutlicht die strategische Position des Speichers als Landmarke, die sich tief in das Stadtbild eingeprägt hat.
Ein bemerkenswertes architektonisches Detail ist die Gestaltung der Fenster auf einer Seite des Speichers, die den Eindruck eines Wohnhauses oder Krankenhauses erwecken. Diese Täuschungsmaßnahme sollte feindliche Bomber in die Irre führen, da Wohnhäuser und Krankenhäuser seltener gezielt angegriffen wurden. Diese Fensteranordnung spiegelt die vorausschauende Planung und den militärischen Pragmatismus der damaligen Zeit wider und offenbart weitere Facetten dieses Bauwerks.
Im Inneren zeigt Görz die technische Ausstattung, die bis heute zuverlässig arbeitet. Die 40 Schachtspeicher werden über ein analoges System gesteuert, das vollständig offline arbeitet und somit vor digitalen Bedrohungen geschützt ist. Die Elevatoren für den Getreidetransport funktionieren einwandfrei und erlauben eine reibungslose Verteilung. Bei Bedarf konnte das Getreide in speziellen Stationen gereinigt oder getrocknet werden und jeder Schacht ist separat begasbar, um eine langfristige Lagerung ohne Schädlingsbefall zu ermöglichen.
Der Bau des Speichers war damals jedoch umstritten. Die Stadtverwaltung und das Hochbauamt hielten das wuchtige Erscheinungsbild für unpassend und landschaftsfremd. Der Entwurf des Architekten Emil Fahrenkamp, einer prominenten Figur im NS-Regime, setzte sich jedoch durch. Ursprünglich war eine Verkleidung des Sockels mit regionalem Solling-Sandstein geplant, um das Bauwerk harmonischer in die Umgebung einzufügen – eine Idee, die letztlich aus Materialknappheit nicht umgesetzt wurde, aber den lokalen Widerstand dämpfen sollte.
Heute steht der Speicher unter Denkmalschutz, was seine historische und kulturelle Bedeutung anerkennt. Dieser Schutz bewahrt die bauliche Substanz und den technischen Charme des Gebäudes und erinnert an die historische Bedeutung solcher Bauten.
Zum Abschluss des Rundgangs berichtet Dr. Rolf Jürgen Foellmer, Geschäftsführer der Rieke GmbH, von Zukunftsplänen: Sollte der Speicher eines Tages seine Funktion als Getreidelager verlieren, könnte er als „Datenspeicherstadt Holzminden“ eine neue Rolle als Serverfarm übernehmen. Photovoltaikanlagen und Wasserkraft könnten die Energieversorgung gewährleisten, während die Abwärme der Server für Einrichtungen wie ein Altersheim und ein Restaurant genutzt werden könnte. Diese moderne Nutzung würde das Bauwerk in die Zukunft führen, ohne seinen historischen Charakter zu verlieren.
Die Recherchen zeigen, dass der Holzmindener Speicher ein monumentales Beispiel für die kriegsbedingte Vorratspolitik des NS-Regimes darstellt. Der Rundgang in seinem Inneren, das Hinaufsteigen der engen Treppen und die erhaltene technische Ausstattung lassen die Vergangenheit lebendig werden. Der Holzmindener Speicher ist mehr als nur ein Gebäude – er ist ein Denkmal, das uns an eine Zeit erinnert, die niemals vergessen werden darf.




